Reallabore – eine verpasste Chance?
Gastbeitrag von Heiner Herkenhoff, Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes, erschienen am 23.12.2025 in der Börsen-Zeitung.
Vom „Out-of-the-box-Denken” über das „neue Mindset“ bis hin zum „Einfach mal machen“ hat sich unser Land zumindest rhetorisch gut aufgestellt, um lähmende Strukturen aufzubrechen und neue Wege auszuprobieren. Noch besser und sehr viel dringlicher aber wäre es, wenn es eine klare gesetzliche Grundlage dafür gäbe, technologische Neuerungen auch außerhalb starrer Regelwerke anwenden zu können.
Denn genau hier klemmt es häufig: Wenn Innovationen mit den bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen nicht vereinbar sind oder es zumindest Zweifel an ihrer Rechtskonformität gibt, können Innovationsprozesse entweder ganz ausbleiben oder abgebrochen und gegebenenfalls in andere Länder verlegt werden. Darauf zu warten, dass die jeweilige gesetzliche Grundlage angepasst wird, ist für die Unternehmen meist eine schlechte Alternative, denn dieser Prozess – wenn er überhaupt angestoßen wird – dauert in der Regel viel zu lange.
Allerdings gibt es bereits regulatorische Auswege, die Unternehmen die Möglichkeit bieten, gesetzliche Anforderungen temporär und für bestimmte Zwecke auszuschalten: Sie tragen den etwas sperrigen Titel „Reallabore“. Unter Reallaboren versteht man befristete Testphasen für innovative Technologien, Produkte oder Dienstleistungen, die unter möglichst realen Bedingungen und unter Beteiligung der jeweils zuständigen Behörde durchgeführt werden.
Bereits in einem frühen Stadium können auf diese Weise Chancen und Risiken von Technologien analysiert, Wechselwirkungen mit Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und, Wissenschaft erkannt und Rückschlüsse für den Rechtsrahmen gewonnen werden. Doch vor allem beschleunigen Reallabore den Innovationsprozess, indem sie den Transfer neuer Ideen in die wirtschaftliche Anwendung ermöglichen.
In vielen Fällen basieren Reallabore auf sogenannten Experimentierklauseln, die es den zuständigen Behörden erlauben, für die Erprobung kontrollierte Ausnahmen von fachrechtlichen Vorgaben und Verboten zu gestatten. In der deutschen Wirklichkeit sind diese Experimentierklauseln allerdings vergleichsweise dünn gesät, und von der Möglichkeit, Reallabore einzurichten, wird insgesamt trotz hoher Nachfrage im Markt viel zu selten Gebrauch gemacht. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass es seit dem Sommer einen Gesetzentwurf der Bundesregierung gibt, mit dem die Regierung „eine häufigere und bessere Nutzung von Reallaboren in allen Bereichen ermöglichen“ will.
Banken würden profitieren
Auch viele Banken würden es sich wünschen, dass mehr Reallabore eingerichtet werden, denn es gibt ausreichend Bedarf. So könnten sie beispielsweise dabei helfen, Verantwortlichkeiten im Umgang mit selbständig agierender KI zu erproben und rechtlichen Anpassungsbedarf zu identifizieren. Bislang bleibt die Nutzung von KI-Agenten in Deutschland auch deshalb hinter den globalen Entwicklungen zurück, weil es mit Blick auf Haftungsfragen nach wie vor Unsicherheiten gibt.
Reallabore wären aber auch sinnvoll, um harmonisierte Ansätze für Anonymisierungsverfahren zu finden und so die Nutzung von personenbezogenen Daten einheitlich zu regeln. Und schließlich können Reallabore dabei helfen, die für die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Finanzsektors relevante Weiterentwicklung von tokenisiertem Giralgeld als mögliche Antwort auf US-Stablecoins zu unterstützen.
Was aber steht in dem Gesetzentwurf, der sich zum Ende des Jahres noch immer im parlamentarischen Verfahren befindet? In seiner jetzigen Fassung zielt der Entwurf vor allem auf einen besseren Wissenstransfer. Ferner geht es die Verankerung eines Reallabore-Innovationsportals, das die praktische Umsetzung von Reallaboren und das regulatorische Lernen erleichtern soll.
Darüber hinaus wird die Nutzung von Experimentierklauseln für neu einzuführende Gesetze hervorgehoben, auf deren Grundlage Reallabore möglich sein sollen. Hier aber haben wir schon einen ersten Knackpunkt, denn aus unserer Sicht ist es essenziell, dass das regulatorische Lernen nicht nur bei neu einzuführenden, sondern auch bei bestehenden Gesetzen greift. Und dies sollte auch dann greifen, wenn dort bislang keine Experimentierklausel vorgesehen ist.
Vor allem aber sollte das Gesetz dem eigentlichen Anspruch gerecht werden, deutlich mehr Reallabore zu ermöglichen als bislang. Aus diesem Grund halten wir es für essenziell, die Einrichtung von Reallaboren als Ziel des Gesetzes festzuschreiben und die Modalitäten zur Einrichtung konkret zu verankern – im jetzigen Entwurf ist dies nicht der Fall. In diesem Zusammenhang müsste das Gesetz auch dafür Sorge tragen, dass die unterschiedlichen Branchen gleich behandelt werden.
Level-Playing-Field nötig
Bislang wird die Notwendigkeit zur Einrichtung von Reallaboren in den Bundesministerien teils unterschiedlich bewertet. Um einzelne Branchen nicht zu benachteiligen oder ihre Innovationsfähigkeit einzuschränken, brauchen wir eine Art Level-Playing-Field. Ohne eine Verpflichtung für Ministerien und nachgeordnete Behörden, Reallabore bei Vorlage spezifischer Kriterien einzurichten, wird dies nicht gelingen.
Reallabore sind nur eine von vielen Maßnahmen, die die Bundesregierung im Zuge ihrer „Hightech Agenda Deutschland“ umsetzen will. Doch im Gesamtkontext kommt ihnen eine große Bedeutung zu. Es wäre daher eine vergebene Chance, würden die offenkundigen Schwächen des bisherigen Gesetzentwurfs nicht behoben werden.